Was, wenn es die Wut ist, die ein großes Stück dazu beitragen könnte, dass wir und diese Welt Frieden finden? Eine Wut, die nicht länger unterdrückt wird, sondern frei fließen kann? Wir haben hinter die Kulissen einer tabuisierten Kraft geblickt, unser Innerstes hervorgekehrt und dabei Wundersames entdeckt.
März 2022. „Der Frieden beginnt in dir“, lesen wir hundertfach auf Instagram. Halb Europa meditiert gefühlt für den Frieden. Für eine friedliche Lösung in der Ukraine. Sich hinsetzen, atmen und Frieden finden. Das ist gut. Aber könnte es nicht auch ein Friedensweg sein, in den Wald zu gehen, zu schreien, zu stampfen, zu atmen, sich zu schütteln? Die spinnt, denkst du? Vielleicht rollt sie den Teppich aber auch nur von der anderen Seite aus. Vielleicht spürt sie: Wir kämpfen und führen auch deshalb Kriege, weil uns beigebracht wurde, die Wut abzudrehen. Ein braves Mädchen und ein braver Junge zu sein. Nicht zu laut zu sein, nicht zu groß, nicht aufzufallen, nicht zu sichtbar zu sein. Es wurde uns indirekt gelehrt, wir sind zu… Ja was? Zu sehr Mensch? Wut ist zutiefst menschlich. Sie hat uns überleben lassen in Zeiten, als wir noch als Tigerinnen durch die Savanne streiften. Weil sie uns unsere Grenzen hat abstecken lassen. Uns befähigt hat, uns zu verteidigen. Unsere Kinder zu schützen. Unser Leben zu erhalten. Heute brauchen wir zumindest hierzulande keine Kämpfe mehr um Leben und Tod zu führen. Auch wenn manche denken, sie müssten.
Was wir heute brauchen, ist das Wissen, wie wir uns selbst und unseren Kindern beibringen, mit Wut umzugehen. Bei jeder Regung von Wut in den Modus von Liebe und Frieden zu wechseln hat nichts mit Erleuchtung zu tun. Es trennt uns vom Leben. Kann sogar krank machen. Und es negiert die Tatsache, dass wir hier auf dieser Erde als Menschen und in einem menschlichen Körper inkarniert sind. Allerdings hat die Gesellschaft auf dieser Erde Wut irgendwann als etwas Schlechtes eingeordnet. Als eine Emotion, die ein guter Mensch nicht haben darf. Schon gar nicht wir Frauen. Bullshit. Wut ist pure Lebenskraft. Wut bewegt. Will dich schützen. Setzt Grenzen.
Was wirklich krank macht, ist nicht die Wut selbst. Es ist die unterdrückte Wut. Die Art und Weise, wie uns beigebracht wurde, mit Wut umzugehen. Die Wut kommt? Oh, es geht grade nicht. Oh, darf ich nicht. Oh, was ist die Konsequenz? So viele Ohs. Und mit jedem Oh, wo wir die Wut unterdrücken anstatt sie fließen zu lassen, weil wir denken, damit zu verletzen, verletzen wir uns selbst. Implodieren wir, anstatt uns auszudrücken. Wir lassen zu, dass unsere Grenzen überschritten werden. Schlucken, obwohl wir soviel zu sagen hätten. Und treten unsere Selbstliebe mit Füßen. Bis irgendwann der Kragen platzt. Der Stoppel rausfliegt. Das Fass übergeht. Oder der Körper einfach nicht mehr will. Gestaute Leberenergie ole. Ja, es gibt sogenannte Wut-Krankheiten, entstanden durch unterdrückte Aggression. Rüdiger Dahlke hat ein aufschlussreiches Buch dazu geschrieben.
Das soll jetzt kein Aufruf zum wilden Wüten und Rumschreien sein. Obwohl auch das manchmal notwendig und heilsam ist. Es soll vielmehr eine Anregung sein, die Wut neu zu betrachten – als Lebenskraft, die uns in die Gänge bringt. Als Signal, das uns sagt: Hoppla, da stimmt etwas nicht. Da steigt jemand in meinen Kreis. Da rüttelt jemand an meinen Werten. Da bin ich mir selbst nicht treu. Und sie ist ein mächtiger Antriebsmotor, um Dinge in unserem Leben zu verändern, die nicht gut für uns sind.
Aber wie lasse ich Wut „richtig“ fließen? Wie integriere ich sie so in mein Leben, dass es für mich und die Menschen um mich eine Bereicherung ist? Am Anfang steht die Annahme. Ich spüre die Wut. Und denke nicht länger: Oh, nein, die will ich nicht. Die darf nicht sein. Ich drücke sie nicht länger weg. Sie kommt. Ich registriere sie. Und heiße sie willkommen. Oh, ich bin wütend. Interessant. Und dann kommt es darauf an, wo du gerade bist. Du sitzt mit deiner Familie beim Abendessen? Dann steh auf, geh kurz auf die Toilette oder in einen anderen Raum und atme sie, schüttle dich, bewege dich, bring die Wut in Bewegung, schneide Grimassen, mach wilde Laute, lass sie fließen. Aber nicht, um sie rauszuschütteln, sondern um dich mit ihr zu schütteln, bis ganz von selbst Frieden in dir einkehrt. Vielleicht ist die Dimension aber auch so, dass du ihr einfach im Gespräch Ausdruck verleihen kannst, deine Emotionen auf den Tisch bringen kannst, ohne verletzend zu sein. Und ja, manchmal ist es auch notwendig und ok, einfach zu explodieren. Meine Erfahrung: Wenn Kinder ihre Wut leben dürfen und gelernt haben, dass Wut wertvoll sein kann, können sie auch besser damit umgehen, wenn Mama mal unkontrolliert in den Boden stampft und „Boaahhh, jetzt bin ich aber wütend!“ posaunt.
Oder du merkst: Ja, ich spüre die Wut und ich weiß, ich darf mich darum kümmern, aber es ist ok, jetzt noch in dieser Situation am Esstisch zu bleiben, ohne mich selbst zu verletzen. Und ich hol mir die Situation später her um sie nochmal durchzuatmen, zu schütteln und zu lösen. Und es gibt noch viele andere Möglichkeiten, unsere Wutkraft frei zu leben: in ein Kissen prügeln, stoßatmen, hüpfen, stampfen, in den Wald gehen und einfach mal so richtig laut herumbrüllen, einen rumliegenden toten Ast nehmen und auf den Boden hauen… Und es muss auch nicht immer die volle Ladung sein. Freies Tanzen oder Singen, Schreiben und auch intuitives Malen sind zum Beispiel wunderbare Möglichkeiten, um Wut und generell unser System ins Fließen zu bringen. Macht Spaß und hat einen großen Vorteil: geht auch mit Kindern. Wir nutzen dabei den Wutantrieb, um ins Tun zu kommen, unsere Kreativität in Bewegung zu bringen oder für eine längst notwendige Veränderung loszugehen.
Ungelebte Wut ist übrigens kein Phänomen, das nur Frauen betrifft. Ja, die patriachalen Systeme dieser Welt haben ihren Beitrag dazu geleistet, viel Leid verursacht und den Wuttopf immer voller laufen lassen. Die Frage ist nur, ob es uns weiterbringt, aufeinander wütend zu sein. Oder ob es sich freier anfühlen würde, sich selbst zu ermächtigen und loszugehen, echtes Bewusstsein zu schaffen, die Wut anzunehmen, zu spüren, zu durchleben und fließen zu lassen – in welcher Form auch immer. Übrigens: Unsere Männer waren auch mal Jungs. Und haben meist genauso wenig gelernt, ihrer Wutkraft konstruktiv Ausdruck zu verleihen. Und ihrer Traurigkeit, ihrer Angst – generell ihren Emotionen.
Da steckt viel Potenzial drin. Auf beiden Seiten.
Potenzial für Frieden – in unserem Inneren, in unserem Umfeld und auf der Welt.
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